Werbung

Nachricht vom 03.05.2020    

Buchtipp: „Katharsis“ von Michael Reh

Von Helmi Tischler-Venter

In der Psychologie bedeutet Katharsis das Sichbefreien von psychischen Konflikten und inneren Spannungen durch emotionales Abreagieren. Im beschriebenen „Drama einer Familie“ ist der Befreiungsschlag ein rätselhafter Mord an Tante und Onkel. „“Es muss Schluss sein“, dachte er, „ein für alle Mal“. Die Wut war stärker als die Furcht.“ Ein Roman mit realem Hintergrund und Sogwirkung.

Buchtitel. Foto: Verlag

Dierdorf/Hamburg. Der Mörder ist Nikolas, der Zwillingsbruder von Max, der nach über zwanzigjähriger Abwesenheit von der Familie aus New York zur Beerdigung heimkommt. Auch er hat psychische Probleme, die er durch ein rauschhaftes Leben mit Drogen, Alkohol, Sex und Partys überlagert. Seine Vergangenheit hat er damit so erfolgreich verdrängt, „dass sie keine Chance hatte, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorzukriechen und sich ihm zu offenbaren.“

In dem kleinen Heimatort steigen die verbannten Geister der Vergangenheit immer öfter und drängender an die Oberfläche. Nach mehreren Wiedersehen mit Jugendfreunden und Familienmitgliedern und verstörenden Erinnerungsblitzen, wird Max klar, dass Onkel und Tante seinen Bruder Nikolas als kleinen Jungen missbraucht hatten. Dieser hatte aufgehört zu lachen und zu sprechen und wurde wegen seiner Bockigkeit als Autist diagnostiziert und in Heime abgeschoben. Am Ende lebt er vereinsamt im Dachgeschoss über dem inzwischen verwitweten Vater.

Die Recherchen bringen Max immer wieder in Konflikte, denn für die Familienmitglieder ist der Vorwurf „Kindesmissbrauch“ zu ungeheuerlich und unvorstellbar. Denn Max Familie war „deutsch, katholisch, aufrecht, angesehen. Seit einem Jahrhundert im Dorfe ansässig.“ Über vieles wurde nie gesprochen, das war üblich. Die Menschen lebten in dauernder Angst vor dem, was die Leute im Dorf sagen würden, in Angst, nicht den Konventionen zu entsprechen. Jeder Einzelne hat seine Leiche im Keller. Das erkennt Großmutter Helene, die sich endlich ihrer Verantwortung stellt.

Der strenge Vater ist von seinen Söhnen völlig enttäuscht: Der Eine ein Irrer und Mörder, der Andere ein ständig zugedröhnter Herumtreiber, denn Fotograf ist für ihn kein akzeptabler Beruf. Der Vater wird lebenslang bei seiner Einstellung bleiben und sich auch durch Fakten nicht ändern lassen.



Es ist nur die Spitze des Eisbergs, die Max aus dem Eismeer seiner Kindheit an die Oberfläche zieht. Außer dem Mord haben sich diverse Familienmitglieder noch andere Verbrechen zuschulden kommen lassen. Die Familienaufstellung erklärt, warum die Persönlichkeiten sich so entwickelten. Und warum in der engen familiären und dörflichen Gemeinschaft niemand etwas bemerkte oder unternahm. „Man dachte in dieser ersten Woche der Verhandlung oft an die deutsche Seele, die es so gut verstand, Tatsachen zu verdrängen.“

Je mehr aus der Vergangenheit sichtbar wird, desto mehr muss Max sich den eigenen Lügen stellen. Und er stellt fest, dass Kindesmissbrauch erschreckend verbreitet ist und dass mit pornographischen Fotos von Kindern ein einträglicher Internethandel läuft. Er erlebt, dass die Wunden bei den Opfern nie ganz verheilen, dass sie ein ganzes Leben unter den Folgen leiden und selten ein normales Leben führen können.

Die Presse stürzt sich vehement auf die Sensation, aber schnell wechselt die Empörung durch eine neue Sensation zu anderen Themen.

Der Autor Michael Reh packt in seinem Buch ein schwieriges Thema an. Durch Rückblicke und Personenwechsel führt er die Handlungsstränge in spannender Weise aufeinander zu. Wirkt die Familienaufstellung zu Anfang des Romans noch sachlich und langwierig, so wird doch ihr Sinn später deutlich, denn die Geschichte wird immer packender und eindringlicher. Sie läuft regelrecht heiß und wirkt durch ihren Wahrheitsgehalt beklemmend. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.

Erschienen ist das 388-seitige Taschenbuch beim acabus Verlag Hamburg, ISBN 978-3-86282-745-9; ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-747-3; PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-746-6. htv



Lesen Sie gerne und oft unsere Artikel? Dann helfen Sie uns und unterstützen Sie unsere journalistische Arbeit im Kreis Neuwied mit einer einmaligen Spende über PayPal oder einem monatlichen Unterstützer-Abo über unseren Partner Steady. Nur durch Ihre Mithilfe können wir weiterhin eine ausgiebige Berichterstattung garantieren. Vielen Dank! Mehr Infos.



Mehr dazu:   Buchtipps  
Lokales: Dierdorf & Umgebung

Jetzt Fan der NR-Kurier.de Lokalausgabe Dierdorf auf Facebook werden!


Anmeldung zum NR-Kurier Newsletter


Mit unserem kostenlosen Newsletter erhalten Sie täglich einen Überblick über die aktuellen Nachrichten aus dem Kreis Neuwied.

» zur Anmeldung



Aktuelle Artikel aus der Kultur


Mit Hugo Egon Balder zum "Aufguss": Letzer Premierenabend der Saison im Schlosstheater Neuwied

Neuwied. Freitagabend (31. Mai) und so mancher Besucher fühlte sich schon heimisch. Auf der Bühne: Dorkas Kiefer als Emilie ...

Das Stadt-Land-Fluss-Festival wurde in Hamm ideenreich eröffnet

Hamm. Moderator Anselm Sellen von der organisierenden Agentur "Kreativ-Labor HeartWire" begrüßte in fröhlicher Weise die ...

2000 Jahre Kirchenlied im Gemeindehaus der Marktkirche in Neuwied

Neuwied. Vor genau 500 Jahren, nämlich im Jahr 1524, erschienen die ersten evangelischen Gesangbücher. Auf Initiative Martin ...

Freie Bühne Neuwied zeigt "Auf der Spukburg sind die Geister los" im Kultursalon Altenkirchen

Altenkirchen. Lord Buffel ist eigentlich der gutmütige Herr der Burg. Jedoch gab es vor vielen Jahren einen Streit mit der ...

Kunstausstellung "Blickwinkel" in Neuwied: Zeichen der Solidarität für Geflüchtete

Neuwied. Dieses deutschlandweite Kunstprojekt setzt sich intensiv mit der weltweiten Flüchtlingskrise auseinander und zielt ...

Kunstausstellung im DRK Krankenhaus Neuwied: Wenn Kühe Besucher und Patienten begrüßen

Neuwied. Der Kaufmännische Direktor des DRK Krankenhauses Neuwied, Bernd Löser, stellt einleitend fest, dass sich Kunst und ...

Weitere Artikel


Jetzt einen fledermausfreundlichen Garten gestalten

Mainz/Holler. Einen fledermausfreundlichen Garten anlegen
„Nachtblühende, nektarreiche Blütenpflanzen, zum Beispiel gewöhnliches ...

Frauenselbsthilfe Krebs – auch in Corona-Zeiten da für Menschen mit Krebs

Neuwied. „Die FSH hat ihre Selbsthilfeangebote in den vergangenen Jahren ständig optimiert und an die Erfordernisse der multimedialen ...

Polizei Neuwied berichtet über Unfälle, Straftaten und Brandstiftung

PKW beschädigt
Irlich. Am 30. Aprol wurde der PI Neuwied gemeldet, dass unbekannte Täter in der Nacht vom 29. auf den 30. ...

Illegaler Schatzsucher bringt sich und andere in Gefahr

Bad Hönningen. Die gleiche Wanderin stellte am 2. Mai am gleichen Fundort wie am Vortag, wieder Munition auf dem Baumstumpf ...

Linzer Männergesangverein singt Online in Begleitung von Björn Heuser

Linz. Die meisten Mitglieder konnten sich zum ersten Termin erfolgreich einloggen und nach den erforderlichen Freigaben für ...

Künstler „Herr Kossmann“ ist für Palm Art Award 2020 nominiert

Bad Hönningen. Kossmann-Hohls, der seine Kunstwerke unter dem Namen „Herr Kossmann“ signiert, ist in diesem Jahr erstmals ...

Werbung