„ww-Lit“ im Live-Streaming: Ursel Allenstein las Tove Ditlevsen
Von Helmi Tischler-Venter
Wegen den Corona-Hygienebestimmungen begrüßte Organisatorin Maria Bastian-Erll die Gäste der Westerwälder Literaturtage im Kulturwerk Wissen digital. Im Live-Streaming konnte Ursel Allensteins Lesung von Tove Ditlevsens „Kindheit“ verfolgt werden. Bernhard Robben moderierte die Veranstaltung.
Wissen. So trafen zwei preisgekrönte Literaturübersetzer im Westerwald zusammen. Beide äußerten sich fasziniert von der literarischen Überraschung aus Dänemark: Die Autorin Tove Ditlevsens ist 1976 verstorben, ihre Werke - drei schmale Bände mit der Kopenhagen-Trilogie „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ - erfahren gerade internationale Anerkennung.
„Kindheit“ erzählt vom Aufwachsen in Kopenhagen der 1920er Jahre in einfachsten Verhältnissen. Kopenhagens Hauptstraße ist für die 1917 in Kopenhagen geborene Ditlevsen die Straße der Kindheit: „Die Straße schläft nie“.
Ihre Kindheit war kantig, hart und kurz, mit einer hartherzigen kalten Mutter. Mit 14 verließ sie die Schule, mit 17 das Elternhaus, wurde Dienstmädchen und heiratete mit 22 einen älteren Journalisten. Sie heiratete noch dreimal und bekam eine Tochter und zwei Söhne.
Allein im Schreiben war sie glücklich, aber ihr Vater wollte sie nicht Autorin sein lassen: „Ein Mädchen kann nicht Dichter werden.“ Er war Heizer, einfacher Arbeiter, ein Gewerkschafter, ein Sozialist, dem Progressiven zugewandt. Trotzdem schreibt Ditlevsen: „Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann… Nur der Tod kann einen davon erlösen, weshalb man viel an ihn denkt… “
Entgegen der väterlichen Meinung wurde Ditlevsen als Schriftstellerin bald berühmt. Als sie mit 56 an einer Überdosis Drogen starb, folgten Tausende ihrem Sarg. 40 Jahre später wird die Welt vom internationalen Tove-Fieber heimgesucht. Der Aufbau-Verlag gab die Trilogie in einer glasklaren kongenialen deutschen Übersetzung heraus, geschrieben von Ursel Allenstein, der Ditlevsen eine „Herzensautorin“ ist.
Allenstein ist am meisten an Büchern interessiert, die durch die Sprache begeistern und Ditlevsens Sprache sei durchkomponiert, die Bilder seien ihr wichtig. Mit der Sprache schaffe sie Distanz, zum Beispiel setzt sie eine Markierung, indem sie im Roman ihr Geburtsdatum falsch angibt als Hinweis, sie nicht gleichzusetzen mit dem, was sie schreibt. Durch das Ändern von Fakten setzt sie sich über Gott. Sie schreibt mit einer erstaunlich modernen Sprache, kein Wort zu viel, manchmal Umgangssprache, immer mit Rhythmus. Bilder, die sie durch Komik bricht, wenn die Gefahr zum Pathos da wäre.
Ihr ganzes Leben einschließlich den Beziehungen zu Männern ordnete die Autorin dem Schreiben unter, ihrem primären Lebensgrund. In der Psychiatrie, einer sehr glücklichen Phase ihres Lebens, schrieb sie in zeitlicher Distanz über ihr Leben. Das Schreiben rettete sie aus den schlimmsten Situationen. Präsent war sie wirklich nur im Schreiben, dadurch war das Verfassen der drei Bände wie eine Wiedergeburt für sie. Trotz des harten Inhalts schreibt Ditlevsen humorvoll. Allenstein bezeichnete den ersten Band als den poetischsten, den zweiten als humorvollsten und im harten dritten Band tauchten die Bilder wieder auf, er habe aber etwas Getriebenes, als würde es zum Ende hin beschleunigen.
Die beiden Literaturübersetzer sind sich mit Maria Bastian-Erll in ihrem Urteil einig, dass die drei Bände Weltliteratur sind und ein faszinierendes, empfehlenswertes Lese-Erlebnis bieten.
Interessierte Zuhörer können auch im Nachgang der Online-Veranstaltung einen Link zur Aufzeichnung per E-Mail unter mail@kulturwerk-wissen.de bestellen. Das Programmheft zum Westerwälder Literatursommer 2021 kann zugesandt werden, ebenso signierte Bücher. Kontakt unter der Telefonnummer 02742 1874 oder per E-Mail: buchladenwissen@web.de. (htv)
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