Potenziale von jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
Über „Erfolge von Migranten und die Verkennung ihrer Potenziale“ sprach Professor Hacı-Halil Uslucan in der vergangenen Woche bei einem Vortrag im Bendorfer Rathaus.
Bendorf. Die Veranstaltung war Teil des Programms, das die Arbeitsgemeinschaft Türkischer Migranten (ATM) aus Koblenz und Umgebung anlässlich des 60. Jubiläums des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei organisiert hat.
Bürgermeister Christoph Mohr freute sich über das rege Interesse an dem Thema, das eng mit Bendorfs (Industrie-)Geschichte verbunden ist. „Was wäre das deutsche Wirtschaftswunder, was wäre die Bendorfer Wirtschaft ohne die Menschen gewesen, die damals als Gastarbeiter zu uns gekommen sind?“, so der Rathauschef. Die kulturelle Vielfalt gehöre zum Charme und der Identität der Rheinstadt.
Mohr plädierte dafür, Migration und Integration als Chance zu begreifen – nicht nur für die Neubürgerinnen und Neubürger, sondern auch für die Stadt. Das Ziel müsse sein, dass die Menschen sich nicht primär als Türken, Italiener, Russen, Syrer oder Deutsche fühlen, sondern in erster Linie als Bendorfer.
Die städtische Beigeordnete und Vorsitzende des Beirates für Migration und Integration des Landkreises, Zeynep Begen, berichtete in einem persönlichen Grußwort von der Ankunft ihrer Eltern in Deutschland und bedankte sich bei der ersten Generation der Migranten, die dafür gesorgt haben, dass ihre Kinder in Deutschland Fuß fassen: „Sie haben uns den Weg frei gemacht“.
Nesrin Zengin aus Bendorf berichtete darüber, wie ihr Vater Ömer Kücük in Bendorf bei der Concordiahütte angestellt wurde – stellvertretend für die erste Generation der Gastarbeiter erhielt er einen Blumenstrauß von den Organisatoren.
Professor Hacı-Halil Uslucan, Psychologe, Migrationsforscher und Inhaber der Professur Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen, ging in seinem Vortrag auf die Potenziale von jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ein.
Zwar gebe es im Generationenvergleich große Fortschritte, was die Bildungserfolge betrifft – während die Gastarbeiter in den 60er-Jahren meist nur die Grundschule besucht haben oder gar Analphabeten waren, studieren heute viele ihrer Nachkommen. Doch sei es immer noch häufig so, dass Talente von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte nicht erkannt werden.
So seien sie zum Beispiel im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in Hochbegabtenförderprogrammen unterrepräsentiert. Die Forschung zu Bildungsbeteiligung, Bildungserfolg und Berufskarrieren von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte sei fokussiert auf die Gründe des Scheiterns und habe deren Potenziale kaum im Blick.
Dominant sei eine sozialpädagogisch motiviert fürsorgliche Haltung, die den „armen und benachteiligten Migranten“ helfen will. Doch dass diese Gruppe möglicherweise über außergewöhnliche Fähigkeiten, Kenntnisse und Talente verfügt, werde oft nicht berücksichtigt.
Die Gründe für diese Verkennung sieht Professor Uslucan in verschiedenen Aspekten. So zum Beispiel in den kulturell-gesellschaftlichen Konzeptionen von Begabungen und Talenten: Kulturspezifische Talente werden zu wenig berücksichtigt oder gewürdigt. Auch gebe es testdiagnostische Verzerrungen, zum Beispiel durch sprachgebundene Wissenstests oder Tests, die kulturelle Vielfalt nicht im Blick haben.
Oft verkennten aber auch die Lehrkräfte die Potenziale von Kindern mit Migrationshintergrund: „Lehrkräfte weisen vielfach eine höhere kulturelle Ähnlichkeit im Lebensstil, in ihren Werthaltungen und Weltsichten mit einheimischen Schülern auf, sehen, erkennen und fördern die Potenziale dort eher als bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte“, erklärt der Migrationsforscher. Als Beispiel berichtete er von einem Jungen, der eine sehr elaborierte Sprachverwendung in der Muttersprache hatte, aber nur ein rudimentäres Deutsch sprach.
Nicht zuletzt gebe es Verzerrungen in der Selbstwahrnehmung von Zugewanderten: In einigen Fällen haben sie den gesellschaftlichen Blick auf sich und ihre soziale Einschätzung so sehr verinnerlicht, dass diese zu einem Bestandteil des Selbstbildes geworden sind. Dazu passt auch das Phänomen des „Stereotype Threat“: Menschen, die wissen, dass sie zu einer sozialen Gruppe gehören, von der man stereotyp geringere Leistungen erwartet, stehen zum Beispiel in Prüfungssituationen mehr unter Stress und können ihr Potenzial nicht abrufen.
Hier gelte es, mit Selbstbestätigung entgegenzusteuern: Die internationale Forschung zeigt, dass Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern bereits mit kleinen psychologischen Interventionen Selbstvertrauen vermitteln können.
Professor Uslucan betont, dass man die Kompetenzen von Kindern mit Migrationshintergrund künftig deutlich stärker in der pädagogischen Arbeit und Forschung in den Blick nehmen müsse. Er setzt sich unter anderem dafür ein, jugendliche Migranten in Schulkontexten noch stärker in verantwortungsvollen Positionen einzusetzen, mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund auszubilden und im Lehramtsstudium mehr Wert auf die interkulturellen Kompetenzen zu legen. Auch seien die Verbesserung der schulischen Ausstattung in sozial-benachteiligten Gebieten wie auch Sprachförderprogramme wichtige Möglichkeiten, um dem Trend entgegenzuwirken, dass Potenziale bei Menschen mit Zuwanderungsgeschichte unerkannt bleiben. (PM)