Werbung

Nachricht vom 21.10.2022    

Immer noch erschreckend aktuell: „Angst fressen Seele auf“

Von Helmi Tischler-Venter

Rainer Werner Fassbinders Stück spielt 1973, zur Zeit des Anwerbestopps von „Gastarbeitern“ wegen der ersten Ölpreiskrise und steigender Arbeitslosigkeit im deutschen Wirtschaftswunder. Eine sechzigjährige Putzfrau und Witwe lernt in einer Gastarbeiterkneipe einen wesentlich jüngeren Marokkaner kennen. Sie verlieben sich. Die Premiere im Schlosstheater Neuwied am Donnerstag (20. Oktober) war ein Erfolg.

Ali und Emmi. Fotos: Helmi Tischler-Venter

Neuwied. Die Hauptrollen sind optimal besetzt mit Ursula Michelis als lebenserfahrene Emmi, die als Putzfrau arbeitet, weil sie „nichts Richtiges gelernt hat im Leben“. Da das Geld immer knapp ist, arbeitet sie für mehrere Arbeitgeber, ohne sich zu beklagen. Sie beschwert sich auch nicht über ihre drei Kinder, die in derselben Stadt auf Distanz zu ihr leben.

Gleichzeitig vertritt sie standhaft ein liberales Menschenbild: Sie hatte gegen den Willen ihrer Mutter einen polnischen „Fremdarbeiter“ geheiratet, der mit 55 Jahren an Leberzirrhose verstorben ist. Als Ali ihr für Essen und Getränke Geld geben will, lehnt sie das ab und hebt es für ihn auf. Sogar, als Ali ihr sein Fremdgehen gesteht, will sie ihm nichts verbieten und tröstet ihn: „Du bist ein freier Mensch. Ich weiß doch, dass ich alt bin.“

Der Altersunterschied, der die Umwelt aufregt, ist sichtbar. Marcus Abdel-Messih ist als Ali jung, freundlich, verständnisvoll und rücksichtsvoll. Man versteht, dass Emmi sich in den Marokkaner verliebt, dessen Vater als Berber „viel spazieren geht mit Kamele.“ Da der Mann mit sechs anderen Arbeitern in einer menschenunwürdigen Behausung schläft, bietet ihm Emmi ein Zimmer in ihrer Wohnung an.

Das bringt die Umwelt in große Aufruhr, denn eine ältere Frau und ein jüngerer Mann werden als unanständig und absurd bezeichnet, während ein älterer Mann mit einer jungen Frau anerkennend belächelt wird. Noch schlimmer ist für die Nachbarin, den Lebensmittelhändler, die Kolleginnen und Emmis Kinder, dass die Frau einen „Ausländer“ heiratet. „Die haben nur Weiber im Kopf, lauter Gesindel, die leben auf unsere Kosten“, sind allgemeingültige Klischees.



Die Kinder sind über das Verhalten ihrer Mutter so entsetzt, dass sie sich von ihr lossagen, der Händler macht sich lustig über Ali und bedient ihn nicht, die Nachbarin ruft sogar die Polizei wegen angeblicher Ruhestörung und die anderen Putzfrauen behandeln Emmi wie Luft. In dieser belastenden Situation machen sich Emmi und Ali gegenseitig Mut und versichern sich ihrer Liebe zueinander.

Aber die vielen Beleidigungen – „Ist das deine Großmutter aus Marokko?“ - und die kulturellen Unterschiede wirken langsam ätzend. So kann Emmi keinen Couscous kochen, den Ali liebt. Er geht zu seiner früheren Geliebten, trinkt Alkohol und verspielt sein Geld. Emmi will ihrem Mann zurückholen, sie geht in das Lokal, in dem sie sich kennengelernt haben. Als sie miteinander tanzen wie ganz zu Anfang, erleidet Ali einen Kollaps.

Die Menschen in der Umwelt des Paares werden in wechselnden Rollen von Stella Withenius, Torsten Peter Schnick, Sören Ergang und Enrico Riethmüller dargestellt.

Das Bühnenbild besteht aus den vier großen, glitzernden Ziffern, die gedreht und geschoben werden, um neue Situationen abzubilden: 1-9-7-3. Das stellt die Handlung einerseits in den historischen Kontext, zeigt jedoch zugleich, dass fünfzig Jahre danach die Ängste, Animositäten und Vorurteile in der Gesellschaft dieselben sind.

Das Premierenpublikum belohnte die anrührende Schauspielleistung des gesamten Ensembles mit langanhaltendem Beifall. (htv)


Mehr dazu:   Veranstaltungsrückblicke  
Lokales: Neuwied & Umgebung

Jetzt Fan der NR-Kurier.de Lokalausgabe Neuwied auf Facebook werden!

Weitere Bilder (für eine größere Ansicht klicken Sie bitte auf eines der Bilder):
       
 


Anmeldung zum NR-Kurier Newsletter


Mit unserem kostenlosen Newsletter erhalten Sie täglich einen Überblick über die aktuellen Nachrichten aus dem Kreis Neuwied.

» zur Anmeldung



Aktuelle Artikel aus der Kultur


Himmlische Weihnacht in Altenkirchen: Late-Night-Shopping mit Musik und Kulinarik

Altenkirchen. Am Donnerstag, dem 5. und Freitag, den 6. Dezember 2024, lädt der Aktionskreis Altenkirchen ab 16 Uhr zur "Himmlischen ...

Adventskonzert in Unkel

Unkel. Die Veranstaltung wird organisiert von der Heidelberger Kulturvereinigung piano international eV in Zusammenarbeit ...

Galerie Blattwelt lädt nach Niederhofen ein

Niederhofen. In dem Druckereimuseum werden großformatige Prachtbände der Vergangenheit gezeigt. Höhepunkt ist hier die Lüneburger ...

Buchtipp: "Von Aschenputtel bis Zwerg Nase - Märchen in politischen Karikaturen" von Horst Haitzinger

Dierdorf/Oppenheim. Der 1939 geborene Österreicher Horst Haitzinger denkt nach eigenem Bekunden in Bildern und der übliche ...

Kleinkunstbühne präsentiert: Kunst gegen Bares KGB

Neuwied. Das Motto von Kunst gegen Bares ist: Kunst hat einen Wert! Abgestimmt wird am Ende über Geld, das in Sparschweine ...

Einladung zur Finissage der Ausstellung Peter Nagel

Linz. Noch einmal haben zur Finissage, am 24. November um 15 Uhr Kunstinteressierte die Gelegenheit, die großartigen Gemälde ...

Weitere Artikel


Verkehrsunfallflucht in Rengsdorf - Zeugen gesucht

Rengsdorf. Am Donnerstagmorgen ist im Zeitraum von 7.30 Uhr bis 9.20 Uhr in der Westerwaldstraße in Rengsdorf ein geparkter ...

Beatrix Binder las aus ihrem Buch "Lügenbrücke“ im Alten Bahnhof Puderbach

Puderbach. Nach der Begrüßung durch Dr. Martin Henn stellte die Programmleiterin der Literaturtage, Solveig Ariane Prusko, ...

Videowettbewerb: Handwerk als Alltagsretter in Szene setzen

Koblenz. "Zeig uns, wie du uns den Tag rettest" ist das Motto des aktuellen Videowettbewerbs "Handwerk attraktiv Rheinland-Pfalz", ...

Einladung Kreisehrenamtsabend 2022 Fußballkreis Westerwald/Sieg

Oberwambach. Vorgestellt und geehrt werden dabei der DFB-Ehrenamtspreisträger des Fußballkreises Westerwald/Sieg und ein ...

VG Dierdorf war beim Stadtradeln dabei

Dierdorf. Der Auftakt in der Verbandsgemeinde war am 19. Juni zusammen mit dem Raderlebnistag „Jedem sayn Tal“. Mitmachen ...

Neuwieder EHC-Bären wollen die Spitze übernehmen

Neuwied. "Wir haben gesehen, dass Dortmund und Lauterbach gute Gegner waren“, resümiert Neuwieds Trainer Leos Sulak das vergangene ...

Werbung