Die Potenziale der Industrie 4.0 richtig verstehen
Am 18.01. wurde bekannt, dass das Industrieunternehmen Linde den Standort Deutschland verlässt und in die USA übersiedelt. Genau genommen verlässt Linde nicht den Industriestandort Deutschland, sondern lediglich die Frankfurter Börse und lässt seine Aktien in Zukunft nur noch an der Wall Street handeln. Begründet hat Linde diesen Schritt mit der Regulierung durch das deutsche Börsenrecht, die seiner Kapitalakquise sowie seinem Börsenwert schadeten.
Angst vor der Deindustrialisierung
Doch, obwohl Linde diese Entscheidung explizit rein finanzpolitisch begründete, hat der Weggang eines der größten deutschen Industrieunternehmen die Ängste vor einer erheblichen Schwächung des Industriestandortes Deutschland erneut angefacht. Ob die Entscheidung des Konzerns Auswirkungen auf die Produktion in Deutschland hat, ist dabei noch völlig unklar. Steuerrechtlich ist Linde ohnehin schon lange im irischen Dublin sowie im englischen Guildford verortet.
Es ist daher möglich, dass der Weggang Lindes nur die Deutsche Börse trifft und ansonsten ohne Auswirkungen bleibt. Doch selbst, wenn der konkrete Anlass keinen Grund zur Sorge gibt, sind die Ängste bezüglich einer Deindustrialisierung, also der Abwanderung der Industrieproduktion ins Ausland, zumindest in der Tendenz nicht unbegründet.
Schaut man sich etwa die amerikanische Auto- oder Stahlindustrie und deren Zentren aus den vergangenen zwei Jahrhunderten an, so sind die Bilder aus Detroit und anderen Standorten ziemlich erschreckend. Dort herrschen teilweise Massenarbeitslosigkeit und Armut und klassische Hochburgen der arbeitnehmerfreundlichen Demokraten wurden zu Zentren des republikanischen Rechtsrucks rund um Donald Trump und vorher der Tea Party.
In Deutschland steht insbesondere das Ruhrgebiet für das von manchen Soziologen ausgerufene Zeitalter des Postindustrialismus. Dort wurden zwar Milliarden in die Transformation sowie die bildungspolitische und kulturelle Förderung gesteckt, aber die Erwerbslosigkeit ist trotzdem vergleichsweise hoch und die Einkommen gerade im Vergleich zu den Löhnen in der Industrie niedrig. Enttäuschte und ihrer Perspektive beraubte Arbeiter wiederum gehören zu den Kernmilieus der AfD und anderer rechter Parteien und stehen zum Teil nicht mehr hinter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Klassische Industriepolitik gerät an Grenzen
Der Verlust von Produktionsstandorten oder ganzer Branchen ist nicht nur eine wirtschaftspolitische Herausforderung, sondern kann sogar den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade in den betroffenen Regionen empfindlich stören. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive ist der Übergang von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland zwar gut gelungen.
Es ist aber unklar, ob die deutsche Volkswirtschaft etwa einen Wegbruch der Autoindustrie oder auch nur Teile davon überleben würde, ohne deutlich an Stärke zu verlieren. An der Autoproduktion hängt eine ganze Zulieferindustrie und auch das zweite Aushängeschild der deutschen Industrie, der Maschinenbau, ist in Teilen von ihren Aufträgen abhängig.
Politiker und die Spitzenvertreter der Wirtschaft arbeiten deshalb beständig daran, dass die übrig gebliebenen Produktionsstandorte und Industrieunternehmen auch weiterhin in Deutschland produzieren und gleichzeitig international wettbewerbsfähig sein können. Die Arbeitsmarktreformen unter Gerhard Schröder verfolgten genau diesen Zweck, in dem sie helfen sollten, Unternehmen mit günstigeren Arbeitskräften und höherer Flexibilität in der Personalpolitik auszustatten.
Doch angesichts des rasanten Aufstiegs Chinas, des zunehmenden amerikanischen Protektionismus und des nach wie vor hohen Lohnniveaus in Deutschland, gerät die klassische Industriepolitik an ihre Grenzen. Spitzenvertreter der Wirtschaft mahnen daher, dass Deutschland es sich nicht leisten könne, eine weitere große Transformation, wie sie mit der Industrie 4.0 ansteht, zu verschlafen.
Nur eine gelungene technologische Umstellung auf vernetzte Verfahren und eine weitere Automatisierung der Produktion versprechen Produktivitätszuwächse in der erforderlichen Höhe. Das Internet of Things oder seine industrielle Anwendung, das Industrial Internet of Things (IIoT), sollen den benötigten technologischen Vorsprung vor den Billiglohnländern sichern.
Industrie 4.0 kann die Antwort sein
Wer heutzutage eine Werksführung in einem modernen Industrieunternehmen macht, der muss nicht nur aufpassen, nicht von selbstfahrenden Vehikeln überfahren zu werden, sondern er wird auch Bereiche des Werks vorfinden, in denen scheinbar keine Menschen mehr arbeiten.
Im Zeitalter der vernetzten Maschinen können Produktionsmaschinen im Lager selbstständig Material nachbestellen, welches anschließend voll automatisiert an die Maschine geliefert wird. Das automatisierte Lager wiederum kann fehlendes Material eigenständig beim Großhändler bestellen. Menschliche Arbeitskraft wird nur noch in geringem Ausmaß für einfache Bedientätigkeiten sowie für die Wartung und Programmierung der Maschinen benötigt.
Auf der Vertriebsseite bieten sich ähnliche Einsparpotenziale, wenn Kunden etwa im Webshop bestellen, das Lager den entsprechenden Gegenstand zur Verpackmaschine schickt und ein selbstfahrendes Vehikel das Paket in den Transporter lädt. So werden die klassischen Industriearbeiter immer mehr von Ingenieuren und Informatikern ersetzt und die Wertschöpfung pro geleisteter Arbeitsstunde kann vervielfacht werden. (prm)
Agentur Artikel