Pressemitteilung vom 17.03.2023
Flüchtlingssituation: Hilferuf der Kommunen im Kreis Neuwied
Der Kreis Neuwied hat 2022 mehr Flüchtlinge aufgenommen als in den Jahren der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und 2016 zusammen. Jetzt haben die hauptamtlichen Bürgermeister aus dem Kreis Neuwied und Landrat Achim Hallerbach in einem Gespräch mit Staatssekretär David Profit aus dem Mainzer Integrationsministerium die Sorgen und Nöte der Kommunen nachdrücklich geschildert.
Kreis Neuwied. Dass dies Aufnahme so vieler Menschen gelungen ist, ist vor allem dem großen bürgerschaftlichen Engagement zu verdanken. Aber der Kreis Neuwied ist an seiner Grenze angelangt. Es fehlen Wohnungen, Ärzte, Kitaplätze und Lehrer für Schulen sowie Sprachkurse. "Wenn ich es mit einem Flugzeug vergleichen sollte, müsste ich sagen: Boarding completed. Sonst erleiden wir eine Bruchlandung", machte Landrat Achim Hallerbach dabei deutlich.
Auch die Bürgermeister formulierten ihre Sorgen mit klaren, teils emotionalen Worten. Sie betonten, dass kein Wohnraum mehr vorhanden ist, sie aber die Menschen angemessen unterbringen müssen. Die Schaffung von langfristigem Wohnraum sei nicht nur teuer, sondern auch zeitnah nicht leistbar. Eine Unterbringung der Menschen in Turnhallen sei dagegen nicht würdig. Selbst für die Zeit danach stehe kein Wohnraum zur Verfügung.
Gleichzeitig unterstrichen die kommunalen Verantwortungsträger, dass Kinder ein Recht auf einen Platz in Kita oder Schule haben. "Aber wir haben Lehrermangel und zu wenig Personal in den Kitas. Es gibt schon jetzt lange Wartelisten, weil die Kitas alle voll sind. Ein kurzfristiger Zubau ist nicht möglich", so der Tenor. Überdies würden Sozialarbeiter, psychologische und medizinische Betreuer benötigt. Kurzum: "Es fehlen die Kapazitäten."
Wer kümmert sich um die Menschen?
"Da kommen Menschen, die enorm belastende Situationen erlebt haben, sowohl in ihrem Heimatland als auch auf der Flucht. Und wer kümmert sich dann um sie? Wir haben niemanden mehr und bekomme auch niemanden mehr. Deshalb kann es nicht darum gehen, dass wir noch weitere Notunterkünfte in irgendeiner Gewerbehalle eröffnen", appellierte Landrat Achim Hallerbach. Die Flüchtlingshilfe nur an die Kommunen zu delegieren, funktioniere nicht mehr, stellte er klar.
"Schnelle Erfolge wird es sicher nicht geben. Aber es muss auch allen klar sein, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Wir können nicht jedes Jahr immer mehr Geflüchtete aufnehmen. Wir schaffen das nicht", betonte der Neuwieder Landrat Achim Hallerbach.
Einig war er sich mit den Kollegen aus der Stadt Neuwied und den sieben Verbandsgemeinden, dass es gut war, mit dem Land ins Gespräch zu kommen. Dieser Faden soll weitergesponnen werden. Einigkeit herrschte aber auch darüber, dass man von Staatssekretär David Profit eine klare Botschaft erhofft hatte - sei es, dass der Kreis Neuwied aufgrund der permanenten Übererfüllung seiner Aufnahmequote mit Zurückhaltung bei den Zuweisungen rechnen darf oder dass das Land weitere Erstaufnahmeeinrichtungen im größeren Umfang zur deutlichen Entlastung für die Kommunen aufbaut. "Da haben wir leider keine Zusage und Lösung erhalten", bedauert Landrat Achim Hallerbach.
Landrat Achim Hallerbach formuliert sieben Forderungen aus Sicht der kommunalen Familie:
1. Europäische Umverteilung: Die EU hat 455 Millionen Einwohner. Die Aufnahme so vieler Asylbewerber und ukrainischer Flüchtlinge ist zahlenmäßig eigentlich kein Problem. Aber Deutschland ist der bevorzugte Zufluchtsort. Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass eine gleichmäßigere Verteilung in ganz Europa stattfindet und eine Begrenzung gewährleistet ist. Wir brauchen dringend eine gesamteuropäische Lösung, eine Umverteilung der Flüchtlingsströme. In der EU muss geregelt werden, dass Menschen, die schon Zuflucht gefunden haben, nicht nach Deutschland weitergeleitet werden, weil hier die Sozialstandards am höchsten sind.
2. Deutschland muss umgehend die Zahl der Aufnahme reduzieren. Wir müssen der Ukraine helfen und Deutschland muss seinen humanitären Verpflichtungen nachkommen. Aber Deutschland muss die Aufnahme deutlich reduzieren. Die einseitige Belastung ist mit erheblichem gesellschaftlichem Sprengstoff verbunden. Es entsteht großer Schaden, wenn die Kommunen in eine Lage gebracht werden, in der sie nicht mehr handeln können. Dann verlieren die Bürger nicht nur Vertrauen in ihre Kommunen, sondern in den Staat als Ganzes.
3. Konsequente Rückführungen. In Fällen ohne Aufenthaltsrecht muss die Rückführung konsequent durchgesetzt werden. Das betrifft nicht die Menschen aus der Ukraine, sondern aus anderen Staaten. Im Landkreis Neuwied befinden sich aktuell 480 abzuschiebende Personen, aber es laufen nur 15 Abschiebeverfahren. Die Probleme liegen in rechtlicher, politischer und tatsächlicher Natur und sind von der Kreisverwaltung als ausführender Behörde nicht zu ändern. Die Verfahren müssen deshalb nach außen verlagert werden. Andere EU-Länder planen gerade eine solche Verlagerung.
4. Ein strengeres Grenzregime. Das Thema Migration ist mit großer Verantwortung verbunden. Wir wollen nicht einfach die Grenzen schließen. Durch unser enges Leistungsnetz verleiten wir derzeit Menschen, extrem gefährliche Fluchtwege zu gehen. Viele Zuwanderer kommen aus menschlich vollkommen verständlichen Gründen zu uns, sind aber eigentlich nicht asylberechtigt. Das überfordert dauerhaft unser System in Deutschland.
5. Bekämpfung der Fluchtursachen. Wir brauchen eine ambitionierte Entwicklungshilfe, um Menschen in Krisenregionen vor Ort oder in den Nachbarländern Perspektiven zu bieten. Es ist der falsche Weg, hier in Deutschland ohne Strategie und Perspektive Wohncontainerstandorte zu errichten. Diese Infrastruktur und finanziellen Mittel müssen in die Länder, aus denen die Menschen kommen.
6. Qualifizierte Zuwanderung. Deutschland braucht Zuwanderung. Wir brauchen gut ausgebildete, leistungsbereite und motivierte Einwanderer. Es gibt genügend Beispiele, das dies gelingt. Sie reichen aber nicht aus. Bei vielen Einwanderern, die in den vergangenen Jahren gekommen sind, gibt es große Defizite in Sachen Bildung, Zugang zum Arbeitsmarkt und Integration. Beispielsweise haben nur 21 Prozent der geflüchteten Afghanen einen der mittleren Reife entsprechenden Schulabschluss, nur circa 35 Prozent sind sozialversicherungspflichtig in Deutschland beschäftigt.
7. Leistbarkeit einer gelungenen Integration. Derzeit ist in vielen Bereichen eine Überlastung sichtbar. Kernproblem ist und bleibt der fehlende Wohnraum. Das gilt gerade in einem Landkreis wie unserem am Rande der Ballungsräume Köln/Bonn und Rhein/Main. Auch Geflüchtete finden nur sehr schwer eine Wohnung, wenn sie einen Aufenthaltstitel haben und aus der Flüchtlingsunterkunft ausziehen dürfen und müssen. Außerdem ist die Situation in den Kindergärten und Schulen extrem angespannt. Seit 2015 leisten die Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer Großartiges bei der Aufnahme und Betreuung. Aber sie sind an ihrer Grenze angelangt. Für eine gelungene Integration brauchen wir außerdem Integrationshelfer, Sozialarbeiter und Sprachkurse. Die medizinische Versorgung muss stimmen. Kurzum: Unsere Infrastruktur in Deutschland ist für gut 80 Millionen Menschen ausgelegt, aber nicht für 84 Millionen.
(Pressemitteilung der Kreisverwaltung Neuwied)
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