Über die Verhältnisse leben führt zu Revolution
Von Helmi Tischler-Venter
Das Westerwälder Kleinkunstfestival „FOLK & FOOLS“ in Montabaur bietet im 29. Jahr politische Kunst. Zu hochkarätigem Kabarett, politischer Folklore und mitreißender Musik luden die Kleinkunstbühne Mons Tabor und die Stadt Montabaur gemeinsam ein. Am Freitagabend (22. November) lebte zunächst der Kabarettist Frank Lüdecke in seinem aktuellen Programm „Über die Verhältnisse“. Anschließend sang das Bremer Folk-Quartett „Die Grenzgänger“ von der 1918er Revolution.
Montabaur. Nach dem Auftritt des Berliner Kabarettisten Frank Lüdecke plagte Uli Schmidt und viele Zuschauer das schlechte Gewissen, denn der Künstler, der selbst zu den „Babyboomern“ gehört, bezeichnete diese als die „Unwucht im Rentensystem“. Sein Lieblingszitat stammt von Angela Merkel: „Deshalb ist die Zeit gekommen, wirklich in eine Phase einzutreten, wo wir sehr konkret sagen, was gemacht werden müsste.“ Dieser „rhetorische Plattenbau“ unterscheidet sich erheblich von Lüdeckes verbaler Bauhaus-Kunst, die aus gutem Grund seit über 20 Jahren vielfach ausgezeichnet wurde.
Über die Verhältnisse lebt die Bundesrepublik Deutschland, die Flug-Taxis braucht, mehr bezahltes Ehrenamt a la Franz Beckenbauer, fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung von Schulen, damit die staatlichen Schulen nicht zur AOK des Bildungswesens werden und frisches Personal in der Politik, obwohl aus kabarettistischer Sicht die Neuzugänge Spahn, Scheuer und Heimatkundler Seehofer sehr zu begrüßen sind. Letzterer lebt auch über seine Verhältnisse, weil er nicht nur in der Regierung sondern auch in der Opposition sein will. Und „Berlin ohne Dobrindt ist wie Leipzig ohne Semperoper.“
Wer seine Konfession mit „75 B“ angibt, offenbart seine geistigen Verhältnisse. Dagegen ist Arroganz der Versuch, die eigene Unterbelichtung als Überlegenheit zu verklären. Im Rückblick betrachtet, muss eine geringe Wahlbeteiligung nicht bejammert werden: Bei der letzten Bundestagswahl gingen viele Nichtwähler hin, wählten aber die Falschen. Da die Parteien einander zu ähnlich wurden und nur die AfD anders ist, wurde sie von ehemaligen Nichtwählern gewählt. Wenn jeder wählen könnte, was er wollte, wäre das Demokratie. Aber wenn man heute jemand abwählt, ist er EU-Minister. Das Lied über bundesdeutsche Politiker enthält den Refrain: „Komisch, keiner ist’s gewesen!“
Es ist zunehmend schwieriger geworden mit der politischen Orientierung. Wenn du politisch sein willst, dann kauf lieber Äpfel aus der Region. Der Boskoop aus Brandenburg ersetzt die Zweitstimme. Ideen wie den Veggieday muss man einfach einmal zulassen. Europa ist eine tolle Idee!
Im zweiten Teil des Abends kamen die „Grenzgänger“, ein mit vielen Preisen ausgezeichnetes Folk-Quartett aus Bremen, dem die Erneuerung des politischen Liedes in Deutschland maßgeblich zu verdanken ist. Ihr aktuelles Programm „Revolution“ enthält Lieder rund um die deutsche Revolution 1918, die den Ersten Weltkrieg beendete und die erste demokratische Republik auf deutschem Boden begründete.
Die hundertjährigen Lieder spielte das exzellente Quartett in frischen Varianten, mit Reggae, Rock- und Jazz-Elementen durchsetzt. Gefühlvoll spürten die Musiker dem Geist der Kieler Revolution nach mit Liedern von Rio Reiser und „Ton, Steine, Scherben“, Anti-Kriegs-Liedern wie „Mein Michel, was willst du noch mehr?“ oder dem volkstümlichen Spottlied „Wem hamse die Krone jeklaut?“ mit Wiederholungszeilen zum Mitsingen und Gitarrensolo. An den Gitarren brillierten Michael Zachcial und Frederic Drobnjak. Felix Kroll entlockte seinem Akkordeon jeweils passend zarte oder voluminöse Klänge und Annette Rettich brachte am Cello Gefühle hör- und spürbar zum Klingen.
„Brot, Kartoffeln, Kohle her!“, dieses Lied aus den 20er Jahren zeigt, was die Menschen durch die Revolution neben der Sehnsucht nach volkseigenen Schlüsselindustrien zuvörderst sichern wollten. Im „Lied vom Baum in der Großstadt“ klingen die Revolutionäre melancholisch und desillusioniert. Im „Gnomenlied“ philosophierte der 18-jährige Karl Marx darüber, wie die Zustände entstehen, die immer wiederkommen. Brennend aktuell sind auch die Lieder von Berthold Brecht und Hans Eisler.
Arbeiterlieder wurden von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Es ist wichtig, sie weiter zu singen und zu erzählen. Sänger und Moderator Michael Zachcial stellte fest, dass in der Kulturszene keine Arbeiterkinder mehr sind, weil es so schwer ist, dort Geld zu verdienen. Kulturschaffende tun dies meist mit elterlichem Geldpolster.
Als Zugabe boten die Grenzgänger ein Lied des Lyrikers Hölderlin und zum Abschluss von Schiller und Beethoven die „Ode an die Freude“, die „Europa-Hymne“, denn Europa ist eine tolle Idee!
Uli Schmidt, Sprecher der Kleinkunstbühne Mons Tabor verwies darauf, dass die Veranstalter mit nur 15 ehrenamtlich Aktiven das ganze Jahresprogramm bewältigt.
Am Samstag, 23. November um 20 Uhr bietet die Kleinkunstbühne ganz große Kunst in der Stadthalle Montabaur: Das „World Percussion Ensemble“ mit Musikern aus aller Welt wird rhythmisch zur musikalischen Völkerverständigung beitragen und die Künstler von „Drums United“ werden die Stadthalle erbeben lassen Mit Tanz- und Gesangseinlagen bringen die Künstler regelmäßig das Publikum zum Toben. htv
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