Buchtipp: „Katharsis“ von Michael Reh
Von Helmi Tischler-Venter
In der Psychologie bedeutet Katharsis das Sichbefreien von psychischen Konflikten und inneren Spannungen durch emotionales Abreagieren. Im beschriebenen „Drama einer Familie“ ist der Befreiungsschlag ein rätselhafter Mord an Tante und Onkel. „“Es muss Schluss sein“, dachte er, „ein für alle Mal“. Die Wut war stärker als die Furcht.“ Ein Roman mit realem Hintergrund und Sogwirkung.
Dierdorf/Hamburg. Der Mörder ist Nikolas, der Zwillingsbruder von Max, der nach über zwanzigjähriger Abwesenheit von der Familie aus New York zur Beerdigung heimkommt. Auch er hat psychische Probleme, die er durch ein rauschhaftes Leben mit Drogen, Alkohol, Sex und Partys überlagert. Seine Vergangenheit hat er damit so erfolgreich verdrängt, „dass sie keine Chance hatte, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorzukriechen und sich ihm zu offenbaren.“
In dem kleinen Heimatort steigen die verbannten Geister der Vergangenheit immer öfter und drängender an die Oberfläche. Nach mehreren Wiedersehen mit Jugendfreunden und Familienmitgliedern und verstörenden Erinnerungsblitzen, wird Max klar, dass Onkel und Tante seinen Bruder Nikolas als kleinen Jungen missbraucht hatten. Dieser hatte aufgehört zu lachen und zu sprechen und wurde wegen seiner Bockigkeit als Autist diagnostiziert und in Heime abgeschoben. Am Ende lebt er vereinsamt im Dachgeschoss über dem inzwischen verwitweten Vater.
Die Recherchen bringen Max immer wieder in Konflikte, denn für die Familienmitglieder ist der Vorwurf „Kindesmissbrauch“ zu ungeheuerlich und unvorstellbar. Denn Max Familie war „deutsch, katholisch, aufrecht, angesehen. Seit einem Jahrhundert im Dorfe ansässig.“ Über vieles wurde nie gesprochen, das war üblich. Die Menschen lebten in dauernder Angst vor dem, was die Leute im Dorf sagen würden, in Angst, nicht den Konventionen zu entsprechen. Jeder Einzelne hat seine Leiche im Keller. Das erkennt Großmutter Helene, die sich endlich ihrer Verantwortung stellt.
Der strenge Vater ist von seinen Söhnen völlig enttäuscht: Der Eine ein Irrer und Mörder, der Andere ein ständig zugedröhnter Herumtreiber, denn Fotograf ist für ihn kein akzeptabler Beruf. Der Vater wird lebenslang bei seiner Einstellung bleiben und sich auch durch Fakten nicht ändern lassen.
Es ist nur die Spitze des Eisbergs, die Max aus dem Eismeer seiner Kindheit an die Oberfläche zieht. Außer dem Mord haben sich diverse Familienmitglieder noch andere Verbrechen zuschulden kommen lassen. Die Familienaufstellung erklärt, warum die Persönlichkeiten sich so entwickelten. Und warum in der engen familiären und dörflichen Gemeinschaft niemand etwas bemerkte oder unternahm. „Man dachte in dieser ersten Woche der Verhandlung oft an die deutsche Seele, die es so gut verstand, Tatsachen zu verdrängen.“
Je mehr aus der Vergangenheit sichtbar wird, desto mehr muss Max sich den eigenen Lügen stellen. Und er stellt fest, dass Kindesmissbrauch erschreckend verbreitet ist und dass mit pornographischen Fotos von Kindern ein einträglicher Internethandel läuft. Er erlebt, dass die Wunden bei den Opfern nie ganz verheilen, dass sie ein ganzes Leben unter den Folgen leiden und selten ein normales Leben führen können.
Die Presse stürzt sich vehement auf die Sensation, aber schnell wechselt die Empörung durch eine neue Sensation zu anderen Themen.
Der Autor Michael Reh packt in seinem Buch ein schwieriges Thema an. Durch Rückblicke und Personenwechsel führt er die Handlungsstränge in spannender Weise aufeinander zu. Wirkt die Familienaufstellung zu Anfang des Romans noch sachlich und langwierig, so wird doch ihr Sinn später deutlich, denn die Geschichte wird immer packender und eindringlicher. Sie läuft regelrecht heiß und wirkt durch ihren Wahrheitsgehalt beklemmend. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
Erschienen ist das 388-seitige Taschenbuch beim acabus Verlag Hamburg, ISBN 978-3-86282-745-9; ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-747-3; PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-746-6. htv
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