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Nachricht vom 18.09.2021
Kultur
Buchtipp: „G*tt w/m/d" von Veit Dinkelaker und Martin Peilstöcker
Der Katalog im Auftrag der Frankfurter Bibelgesellschaft trägt als Titelbild genauso wie das Ausstellungsplakat die Skulptur „Conchita Wurst auf der Mondsichel“, die die Vielfalt von Geschlechtlichkeit repräsentiert. Tom Neuwirth meinte, Conchita trage den Nachnamen Wurst, weil es eben wurst sei, woher man kommt und wie man aussieht. Vergleichbares formuliert die Bibel.
Buchtitel. Foto: Wolfgang TischlerDierdorf/Oppenheim. Galater 3,28 lautet: „Hier gilt nicht mehr Jude und Grieche, nicht Sklave und Freier, nicht männlich und weiblich, sondern ihr seid alle eins.“ Die Erkenntnis der Geschlechter-Diversität ist nur scheinbar neu, in Wirklichkeit ist sie so alt wie die Menschheit. Ergo lautet der Untertitel: „Geschlechtervielfalt seit biblischen Zeiten“. Ein Team von Experten analysiert aus verschiedenen Blickwinkeln die Geschichte der Vielfalt von Geschlechtlichkeit in Kunst, Religion und Kultur. Vermeintliche Klarheiten werden neu geprüft.

Seit 2017 gelten in der deutschen Gesetzgebung drei biologische Geschlechter: weiblich, männlich, divers. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat, die sowohl männlich als weiblich waren.

Unter der Überschrift „Gott, Göttin, Götter - Bibel und archäologischer Befund“ werden die Kleidung in der südlichen Levante in vorgeschichtlicher Zeit, Gender und Religiosität im Alten Israel, Pfeilerfigurinen in Judäa: nackte Frau oder Göttin, Gender-Polemik in der Bibel: Götzendienst als Hurerei!?, die Tempelsteuer und die Himmelskönigin - die Jüdinnen von Elephantine, Münzen als Bildträger und Genderforschung und Diversität in der biblischen Archäologie in den Blick genommen.

Bemerkenswert ist, dass in Galiläa geschlechtsspezifische Muster bei Kleidungsstücken während der lokalen Frühgeschichte nicht existieren, nur sekundäre Geschlechtsmerkmale bestimmen das Geschlecht des Trägers. Die hebräische Bibel erwähnt mehrere Göttinnen, die zum Teil kultisch verehrt wurden: Aschera, Anat, Astarte und die Himmelskönigin. Im Buch der Sprüche verschmelzen in JHWH Gott und Göttin zur Gott-Göttin in einem. Die biblische Archäologie brachte eine Reihe von Mischwesen zutage, zum Beispiel eine „Bärtige Göttin“, die Windbladh 2012 zu den Worten veranlassten: „Der moderne Mensch hat viel von der Vorgeschichte zu lernen, als die Menschen keine Probleme hatten Grenzen zu überschreiten und vielleicht weniger voreingenommen waren. Ihre Abhängigkeit und Verehrung von der sie umgebenden Natur ließ sie im Einklang mit der Natur leben und arbeiten. Im prähistorischen Mittelmeerraum könnten die vielen bisexuellen Figuren vielleicht darauf hindeuten, dass die Wahrnehmung von Androgynen sich von heute unterschied. In der modernen Gesellschaft werden queere Persönlichkeiten mit Verachtung und Argwohn betrachtet. In der Antike scheint es, dass sie als Halbgötter mit Ehrfurcht betrachtet wurden.“

Unter der Kapitelüberschrift „G*ttes Ebenbild, männlich und weiblich“ wird die Frage gestellt, ob G*tt entsprechend seinem Ebenbild männlich und weiblich ist. Laut Bibel (Buch Mose/Deuteronomium) zeugt und gebiert G*tt: „Den Fels, der dich gezeugt hat, hast du außer Acht gelassen und hast vergessen den Gott, der dich geboren hat.“ Im hebräischen Buch Hosea steht: „Denn Gott bin ich und nicht ein Mann.“ G*tt ist als (männlicher) JHWH auch (weibliche) Anat und Astarte?! „Der biblische Gedanke, dass G*tt sich im Menschen wiedererkennt, „männlich und weiblich“ (1. Buch Mose/Genesis 1,27) öffnet die Perspektive für ein Spektrum, das neu zu entdecken ist, obwohl es schon immer da war.“, schlussfolgert Veit Dinkelaker. Das Buch Mose sieht den von JHWH-G*tt aus „Lehm“ geschaffene Körper des Menschen doppelgeschlechtlich, bis Eva geschaffen ist - erst dann stehen sich Mann und Frau gegenüber: Doppelgeschlechtlichkeit als vollkommener Urzustand und Bestimmung ist G*ttebenbildlichkeit. In diesem Sinne formuliert auch der Koran: „Und Er ist es, der euch aus einer einzigen Selle erschaffen hat und der aus ihr ihren Partner/zweiten Teil erschaffen hat, damit er bei diesem Ruhe finde/wohne.“ (Sure 7,189)

In der christlichen Alchemie des Mittelalters und frühen Neuzeit steht der mann-weibliche Hermaphrodit für die stoffliche Vollkommenheit und der androgyne Adam ist somit Sinnbild für das Ziel der Alchemie schlechthin. Im Judentum gibt es laut Joshua Ahrens bis zu sechs Geschlechter, die Bibel verbietet die Diskriminierung aufgrund eines uneindeutigen Geschlechts. Mira Sievers bezeichnet die koranische Barmherzigkeit als stark weiblich assoziiert. Im islamischen Kontext werde ein drittes Geschlecht akzeptiert.

Seit Januar 2019 ist das dritte Geschlecht „Divers“ in allen deutschen Gesetzestexten festgeschrieben. Im Verlauf der Geschichte hatten Intersexuelle mit Diskriminierungen umzugehen, den Höhepunkt bildete das Dritte Reich mit grausamen Experimenten an Zwittern.

„Nicht männlich, nicht weiblich, sondern eins“ lautet die Überschrift des dritten Kapitels, das die Vielfalt der Geschlechter im Neuen Testament und frühen Christentum untersucht. Eunuchen, ein androgyner Christus und die Rolle der ersten Christinnen werden betrachtet. Der museale Kosmos der Skulptur von Conchita Wurst aus Holz, die der Volkskultur entliehen ist und Hybridisierung aller Heiligenfiguren darstellt, verdeutlicht, dass das Museum Europäischer Kulturen in Berlin Haltung für eine vielfältige Gesellschaft bezieht. Die Biologie, die die binäre Ordnung der Geschlechter als „naturgegeben“ attestieren soll, zeigt, wie erstaunlich variabel und multipel Erscheinungsformen von Individuen sind. Intersexualität trifft auf anatomischer Ebene auf 1 von 2.000 Geburten zu. Unter Einbeziehung chromosomaler Besonderheiten sind das in Deutschland mindestens 160.000 Menschen. Gerhard Schreiber konstatiert: „Geschlechtervielfalt ist Ausdruck der Vielgestaltigkeit der Natur, die Gott geschaffen hat.“ Texte zu gleichgeschlechtlichen Aktivitäten finden sich in der Bibel, sodass Menschen für sich entscheiden: „Ich werd jetzt nicht Mann oder Frau, ich werd Christ!“

Erschienen ist der mit 225 Abbildungen und 10 Karten versehene 208-seitige Katalog zur Ausstellung im Bibelhaus Erlebnismuseum Frankfurt im Nünnerich-Asmus Verlag, ISBN 978-3-96176-138-8. (htv)
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