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Nachricht vom 07.06.2022
Region
Zukunft der Werkstätten für behinderte Menschen: Diskussion im Heinrich-Haus Neuwied
Ein überzeugendes Plädoyer für moderne Werkstätten, die Menschen mit Behinderung einen schützenden Rahmen bieten, hielt Prof. Dr. Stefan Sell am vergangenen Freitag (3. Juni) im Heinrich-Haus Neuwied. Rund 150 Gäste aus verschiedenen Einrichtungen der Eingliederungshilfe, aus Politik, Wirtschaft und Institutionen waren der Einladung nach Engers gefolgt.
Beim regem Zusammenkommen wurde die Zukunft der Werkstätten diskutiert. (Fotos: privat)Neuwied. Die Gäste tauschten sich mit den Initiatoren fachlich aus und diskutierten die Herausforderungen der Zukunft im Blick auf eine nachhaltige gesellschaftliche Integration.
Anlass war die nachgeholte Feier zum Josefstag, der traditionell am 19. März im Heinrich-Haus begangen wird. Nachdem der Josefstag in den vergangenen zwei Jahren pandemiebedingt ausfallen musste, hatte das Heinrich-Haus die Feierlichkeit nun in den Juni verlegt.

Persönliches Zusammenkommen erfolgreich
„Wir sind sehr stolz darauf, dass wir bislang so gut durch die Pandemie gekommen sind. Weil wir uns hier aber in einem Umfeld befinden, in dem weiterhin höchste Vorsicht geboten ist, wollten wir eine solche Feier nicht am 19. März, dem Hochfest des heiligen Josef, stattfinden lassen, da zu dieser Zeit noch ein sehr heftiges Infektionsgeschehen in unserer Region vorherrschte“, erläuterte Geschäftsführer Dirk Rein in seiner Begrüßung. Dass eine Verschiebung statt erneutem Ausfall aber genau die richtige Entscheidung war, zeigte sich im Verlauf der Veranstaltung sehr deutlich: Nach der langen Zeit virtueller Meetings waren viele Gäste froh, wieder einmal persönlich – bei bestem Wetter unter freiem Himmel – zusammenkommen zu können.

Im Anschluss an einen geistlichen Impuls, in dem die Seelsorgerinnen des Heinrich-Hauses, Mechtilde Neuendorff und Monique Scheer, in das Thema einführten, sprach Professor Sell zum Thema „Zwischen ‚Abreißen‘ und ‚Weiter so‘ in der Behindertenhilfe: Anmerkungen am Beispiel der Diskussion über die (Nicht-) Zukunft der Werkstätten für behinderte Menschen“. Sell, der an der Hochschule Koblenz die Professur für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften innehat, betonte gleich zu Beginn, dass er hier nicht über „Peanuts“ spreche, sondern über ein Thema, das mehr als 300.000 Menschen mit einer Behinderung betrifft, die in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten.

„Auf der einen Seite wird den Werkstätten vorgeworfen, dass sie vor sich hin expandieren, dass die Beschäftigten dort ,festgehalten‘ werden, dass es immer stärker nur noch um Wirtschaftlichkeit und Umsätze geht. Dies gipfelt regelmäßig in der Forderung nach einer ,Zerschlagung‘ der Werkstätten, die vor allem unter dem Banner einer ,richtigen‘ Inklusion vertreten wird“, so Sell. Andererseits werde vor dem Hintergrund der Diskussion um auskömmliche Bezahlung und Mindestlohn für behinderte Menschen in Werkstätten erwartet, dass diese neben einem Ort der beruflichen Rehabilitation auch wirtschaftlich erfolgreicher Teilnehmer am Markt sind. Darüber hinaus sei aber klar, dass der erste Arbeitsmarkt für die Mehrheit der über 300.000 Menschen in Werkstätten auf absehbare Zeit kein Angebot zur Teilhabe am Arbeitsleben bereithalten werden kann.

Ein „mittlerer Weg“ muss gefunden werden
Der renommierte Wissenschaftler sprach sich daher – neben durchaus kritischen Anfragen an das System der Werkstätten – eindringlich dafür aus, einen „mittleren Weg“ zu verfolgen: Modernisierung und Personenzentrierung einerseits, aber andererseits vor allem sicherer Ort für die Menschen, die den Schutz der Gesellschaft dringend benötigen. „Es ist immer leicht, eine bestehende Struktur zu zerstören und abzureißen, aber was dann kommt, bleibt höchst unsicher“, warnte Sell. Es gilt jede und jeden Beschäftigten in Werkstätten auf dem persönlich richtigen Weg von beruflicher Qualifizierung und nachfolgend passendem Arbeitsplatz so zu begleiten, dass gelingende Lebensentwürfe verwirklicht werden können. Im Heinrich-Haus gehört zu diesem Weg immer auch die mögliche Inklusion auf Arbeitsplätze außerhalb der Werkstatt für Menschen mit Behinderung.

Dass das Heinrich-Haus mit der Auswahl des Themas einen Nerv der Zeit getroffen hatte, zeigte sich auch im Anschluss der Rede: So diskutierten die Gäste auf dem Platz vor dem Speehaus in Engers noch lange angeregt weiter und nutzten die lang vermisste Gelegenheit zum Netzwerken und persönlichen Gesprächen. (PM)
 
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