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Pressemitteilung vom 06.10.2022 |
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Region |
"Symptome sind Ausdruck der Lebensgeschichte": "Bedürfnisangepasste Behandlung" im St. Antonius-Klinikum Waldbreitbach |
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Wenn man Husten hat, nimmt man Hustensaft. Wenn man eine Schürfwunde hat, behilft man sich mit einem Pflaster. Wenn die Seele weint, begibt man sich in psychiatrische Behandlung. Problem behoben. Schön wäre das, wenn es so einfach wäre! Die Realität sieht hinsichtlich der Behandlung psychischer Erkrankungen jedoch etwas anders aus. |
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Waldbreitbach. Psychische Leiden sind komplex und können nicht nur rein symptomatisch behandelt werden. Die Ursache muss zunächst gefunden und dann behandelt werden. Sarah Berens, die als Sozialarbeiterin im Marienhaus Klinikum für Psychiatrie und Psychotherapie St. Antonius Waldbreitbach tätig ist, erklärt: „Stellen Sie sich vor, Sie haben eine einschneidende Lebenserfahrung gemacht. Daraus können sich in der Folge psychische Beeinträchtigungen und Symptome wie Depressivität, Ängste oder Psychosen entwickeln. Symptome können somit ein Ausdruck der individuellen Lebensgeschichte sein. Die damit einhergehende seelische Krise wird jedoch nicht von Ihnen alleine erlebt. Stattdessen sind auch Angehörige, Freunde und Kollegen davon berührt. Aus diesem Grund hat es sich bewährt, das gesamte System, in dem ein Mensch sich während einer Lebenskrise befindet, zu berücksichtigen“.
"Offener Dialog"
Genau hier setzt das skandinavische Behandlungsmodell der „bedürfnisangepassten Behandlung“ an. Dieses Modell orientiert sich am Behandlungsansatz des „open dialogue“ (Offener Dialog) und hat seinen Ursprung in Finnland. Dort ist es bereits seit den 80er Jahren für Menschen in seelischen Krisen etabliert. Beim therapeutischen Behandlungsgespräch ist während des Offenen Dialogs nicht mehr nur der Patient, sondern auch die bedeutsamen alltäglichen Bezugspersonen – beispielsweise die ganze Familie - anwesend. Alle relevanten Personen werden also von Anfang an am Behandlungsprozess beteiligt und bilden gemeinsam ein Netzwerk. Die gemeinsamen Netzwerkgespräche sind das zentrale Element der bedürfnisangepassten Behandlungsmethode. Der zu Behandelnde steht in diesen nicht mehr unmittelbar alleine im Fokus, sondern das gesamte System, das aus einem Netzwerk von mindestens zwei Personen besteht. So soll die Möglichkeit eröffnet werden, dass sowohl die Sorgen als auch die hilfreichen Ideen zum weiteren Umgang von allen Beteiligten gehört werden. Gleichzeitig sollen dabei die Kompetenzen im Umgang mit seelischen Krisen innerhalb der Familien und Netzwerke gefördert werden.
Alle Netzwerkmitglieder werden von Anfang an von einem multiprofessionellen Team begleitet. In diesem arbeiten Psychologen, Pflegekräfte, Ärzte, Sozialarbeiter und Genesungsbegleiter zusammen in engem Austausch. Der Behandlungszeitraum kann bis zu fünf Jahren dauern. Dabei bestimmt das Netzwerk während der gesamten Therapie bedarfsorientiert, wann Zeit für das nächste Gespräch ist (durchschnittlich fünf Gespräche pro Jahr). Alle Personen sind gleichwertig wichtig und die Fokussierung auf den Patienten alleine entfällt komplett. Ziel ist stets die Förderung des Dialogs untereinander und das damit einhergehende tiefergehende Verständnis füreinander. Die rund 90-minütigen Gespräche werden jeweils von zwei Fachexperten moderiert und geleitet.
Unterstützende Entscheidungsfindung
Dr. Margareta Müller-Mbaye, die ärztliche Direktorin der Waldbreitbacher Klinik, möchte dieses Behandlungskonzept zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Sarah Berens zukünftig gerne im gesamten Marienhaus Klinikum St. Antonius Waldbreitbach integrieren. „ Wir versuchen den Offenen Dialog in unsere bisherige Arbeit zu integrieren. Er passt gut zu unserer Haltung einer unterstützenden Entscheidungsfindung, dem Verständnis von Erkrankung als eine psychische Krise, die vielfältige Ursachen haben kann, aber abhängig ist, von der sozialen Wirklichkeit unserer Patienten. So werden wir, wann immer das möglich ist, versuchen das gesamte Netzwerk mit einzubeziehen, da das Umfeld meist genauso betroffen ist. Dabei spielt die eigentliche Diagnose keine Rolle sondern die Vielstimmigkeit eines Netzwerkes, meint die vielen verschiedenen Perspektiven zum aktuellen Problem und eine Neuordnung der Sichtweisen. So kann echte Begegnung entstehen“.
Bemerkenswert ist, dass die Symptomfreiheit der Patienten, so die Forschung, nach der Therapie bei bis zu 80 Prozent liegt, ausgehend von einer Behandlungsdauer von fünf Jahren, und es seltener zu Therapieabbrüchen kommt (5 bis 15 Prozent über 5 Jahre). Sarah Berens hat sich auf den „Offenen Dialog“ spezialisiert. Bereits 2015 hat sie sich dazu von Prof. Dr. Volkmar Aderhold weiterbilden lassen. Der Psychiater gilt weltweit als einer der führenden Experten auf diesem Gebiet. Berens unterstützt den Facharzt heute selbst als Co-Trainerin im Rahmen der Weiterbildung von Fachkräften. „Eine Schulung der Mitarbeiter ist enorm wichtig, weil hier eine ganz andere Haltung und Sprache gelehrt wird. Es erfolgt keine Bewertung der Menschen – und das ist wesentlich. Wenn sich die Betroffenen ausreichend sicher und tatsächlich gehört fühlen, offenbaren sie oftmals Dinge, die sie sonst noch nicht erzählt haben. Die wertschätzende Haltung gegenüber den Beteiligten ist dabei ein wichtiger Grundbaustein innerhalb des Genesungsprozesses“, so die Sozialarbeiterin.
Ein Leuchtturmprojekt
Die Implementierung des offenen Dialogs in Teilen der St. Antonius Klinik Waldbreitbach als Projekt wird als Signalwirkung für die gesamte Klinik verstanden – daher kann man es als „Leuchtturmprojekt“ bezeichnen. Das Therapiekonzept ist derzeit an die sozialpsychiatrische Station Vincenz angebunden, auf der unter anderem depressive Erkrankungen, bipolare Störungen und Schizophrenie behandelt werden. In den kommenden Jahren ist geplant, den Offenen Dialog stationsübergreifend auf alle Bereiche des Marienhaus Klinikums in Waldbreitbach auszuweiten. Die Netzwerkgespräche sollen hierbei entweder teilstationär oder ambulant fortgesetzt werden. (PM) |
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Pressemitteilung vom 06.10.2022 |
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