NR-Kurier
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Nachricht vom 23.12.2013
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Unsere kleine Weihnachtsgeschichte
Liebe Leser des AK-Kuriers, des NR-Kuriers und des WW-Kuriers,
was zählt, was hat Bedeutung? Was waren die schönsten Momente in Ihrem Leben? Wann waren Sie am glücklichsten? Meist sind es Begegnungen mit besonderen Menschen, außergewöhnliche Erlebnisse, starke Gefühle, die einem lange in Erinnerung bleiben – und die man sich manchmal zurück wünscht. Mit einer kleinen Geschichte, die eigentlich gar nichts mit Weihnachen zu tun hat, aber das Herz berührt, wünschen wir Ihnen ein frohes Fest, besinnliche und erholsame Feiertage und noch viele schöne Erlebnisse.
Cedriks Engel

von Andrea Fürstenberg

Cedrik kritzelte auf seinem Block herum. Ich warf ihm einen Blick über die Schulter: Ganz offensichtlich malte er einen Engel. Deutlich waren die Flügel zu erkennen. Konzentriert hing mein Neffe über der Zeichnung, seine Zungenspitze guckte ein Stück heraus.

"Wer ist'n das?", fragte ich, richtete mich auf und nippte an meinem Kaffee. Es war ein schwüler Tag und mein T-Shirt klebte mir am Rücken.

"Das ist Opa. Mama sagt, der sitzt jetzt auf einer Wolke."

Er nahm sich einen Buntstift und malte dem Engel blaue Hosen.

"Ach so", sagte ich. Das war ja wieder typisch für meine Schwägerin mit ihrem Gerede von Engeln. Aber warum nicht, wenn es dem kleinen Cedrik half.

"Ich dachte, Engel tragen weiße Nachthemden", sagte ich unüberlegt und setzte mich ihm gegen­über an den Tisch, die Hände um meine Kaffeetasse gelegt. Cedrik blickte auf und sah mich mit großen Augen an. Offenbar überforderte ihn der Gedanke an Opa in einem weißen Nachthemd. Denn Opa trug zu Lebzeiten meistens Karohemden und blaue Jeanshosen.

"Das stimmt bestimmt nicht. Bei Deinem Opa machen sie eine Ausnahme", sagte ich grinsend. Cedrik beugte sich wieder über sein Bild und malte weiter die Hosen des Engels blau an.

Während ich meinen Kaffee schlürfte und Cedrik sein Bild vollendete, betrachtete ich seinen blonden Scheitel. Simone, meine Schwägerin, hatte ihn bei mir abgegeben mit der Bitte, mich um ihn zu kümmern, damit sie die Beerdigung ihres Vaters vorbereiten konnte. Gerne war ich ihrem Wunsch nachgekommen, denn ich mochte meinen sechsjährigen Neffen. Er war ein lieber Kerl.

Nun war er fertig mit seinem Bild und schob es zu mir rüber.

"Gefällt es dir?", fragte er.

"Sehr gut!", sagte ich, und es stimmte, obwohl ich Engeln nicht viel abgewinnen konnte.

"Schenk ich dir!", sagte er und sein Gesicht drückte seine Zuneigung zu mir aus. Das Bild wurde auf der Stelle am Kühlschrank mit Hilfe der Magnete befestigt und bekam einen Ehrenplatz zwischen Rabattgutscheinen und Visitenkarten.

"Super, danke!", sagte ich und umarmte Cedrik mit einem warmen Gefühl der Zuneigung in meinem Herzen.

"Und was machen wir jetzt?", fragte ich ihn. Ich wollte ihm gern etwas Gutes tun und von der kommenden Beerdigung ablenken. Er hatte auch so­fort eine Idee.

"Schwimmen gehen, ins Freibad!", sagte er und sah mich hoffnungsfroh an.

"Aber hast du denn Schwimmsachen mit?", fragte ich und er nickte heftig. Offenbar hatte er damit gerechnet, mich überreden zu können und bereits vorgesorgt. Ich fand die Idee bei näherer Betrachtung auch gar nicht schlecht, denn so konnte man sich wenigstens zeitweise erfrischen.

"Kannst du denn schwimmen?", fragte ich und wieder nickte er heftig.

"Klar!", sagte er. "Papa hat gesagt, ich schwimme wie eine Ente! Und ich bin doch im Schwimmkurs!"

Lächelnd korrigierte ich ihn. „Du meinst wohl, du schwimmst wie ein Fisch!“

Das hörte sich gut an, dann konnte ich vielleicht so­gar mein Buch mitnehmen. Ich war fast fertig mit meinem Roman und gespannt, wie es ausgehen würde.

"Na gut!", sagte ich und strich ihm kurz über die Haare. "Dann hol mal deine Sachen, damit wir los können!"

Eine Viertelstunde später standen wir im Stau. Cedrik auf der Rückbank, schweißgebadet. Mir ging es ähnlich, es wurde immer drückender. Ich hoffte, der Stau würde sich bald auflösen, sonst konnten wir unser Erfrischungsbad vergessen.

Endlich kamen wir am Freibad an. Heute war wirk­lich der Wurm drin: Wir suchten bestimmt zehn Minuten nach einem Parkplatz. Dann stellte ich fest, dass ich meine Geldbörse vergessen hatte. Cedrik war sehr enttäuscht, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Fieberhaft überlegte ich, wie ich weiter vorgehen sollte. Da sah ich eine gute Bekannte aus dem Schwimmbad kommen. Un­sere Rettung! Ich sprang aus dem Auto, begrüßte sie und bat sie um die leihweise Überlassung des Eintrittsgeldes. Nun konnten wir also endlich das Freibad betreten. Ich breitete mein Handtuch aus, als ich das erste Grollen hörte und ein Windböe über die Wiese fegte. Ein recht stürmischer Wind, der keine Zweifel darüber aufkommen ließ, wie es nun weiter gehen würde. Scharenweise flohen die Menschen aus dem Freibad. Cedrik und ich sahen uns an.

"Nun haben wir es so weit geschafft, sollen wir auf­geben?", fragte ich. Cedrik schüttelte mit dem Kopf.

"Nur kurz ins Wasser, ja?", sagte er. In dem Moment fing es an, wie aus Eimern zu gießen. Die übrig gebliebenen Leute schrien und versuchten, so schnell wie möglich ihre Sachen zusammenzupacken und die letzte Wasserratte verließ das Becken. In Sekundenschnelle waren wir nass. Cedrik und ich lachten.

"Nun haben wir ja unsere Abkühlung", sagte ich und Cedrik freute sich, dass ich die Sache so locker nahm. Er tanzte noch ein wenig über die Wiese, dann nahmen auch wir unsere Sachen und liefen zurück.

Pitschnass saßen wir im Auto. Ich machte mir ein wenig Sorgen, dass die Enttäuschung allzu groß sein könnte, aber Cedrik sah aus dem Fenster und betrachtete die regennasse Landschaft. Er nahm es gelassen, also brauchte ich mich auch nicht zu ärgern. Er hatte sich ein Handtuch über den Kopf gehängt und hing seinen Gedanken nach.

Auf dem Heimweg gab es keinen Stau und wir waren schnell wieder in meiner Wohnung. Wir trockneten uns ab, ich holte eine Tüte Chips aus dem Schrank und zwei Gläser Milch. Wir hatten beschlossen, uns einen Tierfilm anzusehen und uns dabei vollzustopfen.

Es war ein schöner Tag mit Cedrik. Am Abend klingelte es und Simone kam die Treppe hoch.

"Na, wo ist denn mein Kleiner?", fragte sie und hielt die Arme auf. Cedrik flog hinein, wie kleine Kinder das gerne machen. Schon das Zusehen machte mich glücklich.

"Komm doch erst mal rein, Simone", sagte ich, denn sie sah etwas abgekämpft aus. Ich schloss die Tür hinter ihr und wir setzten uns noch einen Moment an den Esstisch.

"Na, mein Kleiner, was habt ihr denn gemacht heute?", fragte Simone und streichelte ihrem Sohn über die Schulter.

"Wir haben einen Tierfilm geguckt und Chips gegessen!", sagte Cedrik strahlend. "Eigentlich wollten wir schwimmen gehen, aber es ist alles schief gegangen. Und ich hab ein Bild gemalt und Tante Steffi geschenkt. Ich hole es mal!" Er sprang vom Stuhl und rannte zum Kühlschrank, wo er vorsichtig die Magnete abnahm und neben das Bild heftete. Simone lächelte mich freundlich an.

"Er kommt ja wirklich gern zu dir!", sagte sie.

"Er ist aber auch ein Sonnenschein", antwortete ich und sah Cedrik zu, wie er die Magnete sortierte. "Sorry, ich hatte vergessen, Schwimmflügel beizulegen", sagte Simone. "Ich weiß, dass er dich über­reden wollte, mit ihm ins Schwimmbad zu gehen."

Irritiert sah ich sie an.

"Ich dachte, er kann schwimmen?", fragte ich entgeistert. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich auf der Decke liegen, ein geöffnetes Buch vor mir. Cedrik ohne Schwimmflügel auf dem Weg ins Wasser ...

"Aber nein!", lachte Simone.

"Stefan sagt immer, er schwimmt wie eine Bleiente. Er hat ja gerade erst seinen Schwimmkurs angefangen."

Mir kroch das Entsetzen den Rücken hoch. Wenn es keinen Stau gegeben hätte ... wenn es nicht geregnet und gestürmt hätte ...

Cedrik kam zu uns zurück gelaufen und schob seiner Mutter das Bild zu.

"Guck mal, Mama, ich habe Opa als Engel gemalt!" rief er stolz. „Tante Steffi glaubt nicht an Engel“, fügte er sachlich hinzu und sah mich erwartungsvoll an. Ich sah auf das Bild und der Engel lächelte. Schaute mich an und ich lächelte zurück, froh über die Erkenntnis.

"Natürlich gibt es Engel", sagte ich.

"Und zufällig weiß ich, es gibt einen Engel, der über dich wacht."

Und über mich, dachte ich. Ich beugte mich vor und gab Cedrik einen Kuss.

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Andrea Fürstenberg wohnt mit ihrer Familie in Raubach. An der Universität Bonn arbeitet sie an einem Institut als Sekretärin. Neben Arbeit und Familie schreibt sie gern an bisher unveröffentlichten Geschichten und Büchern.
Nachricht vom 23.12.2013 www.nr-kurier.de