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Nachricht vom 03.01.2021 |
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Kultur |
Leseprobe: Anekdoten aus Kindheit in den 60ern im Siegtal |
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In einem autobiografischen Buch nimmt der bekannte Wissener Jürgen Linke seine Leser mit auf eine Reise zu seiner Kindheit in den 60er Jahren. Viele Geschichten aus seiner Heimat Niederhövels werden alten wie jungen Dorfkindern bekannt vorkommen - wie diese Leseprobe aus "Wölfjen und ich" beweist. |
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Vorwort
Niemals hätte ich geglaubt, dass man tief in seine eigene Vergangenheit eintauchen könnte. Aber es funktioniert tatsächlich und man ist emotional in den alten Geschichten gefangen. So ist es mir ergangen, als ich mich mit meiner Kindheit auseinandersetzte. Wie verblüfft ich doch war, als mir Dinge eingefallen sind, die ich längst vergessen glaubte.
Auf den nachfolgenden Seiten erzähle ich meine Geschichte, die eines kleinen Jungen, der in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem kleinen Grubenort an der Sieg und am Fuße des Westerwaldes aufwuchs.
Wölfjen und ich, so heißt der Titel meiner Geschichte und beschreibt eine Zeit ohne Überfluss. Immer mit einem Augenzwinkern bei allen Unternehmungen, die Wölfjen und ich durchgeführt und erlebt haben. Wölfjen, mein treuer Freund aus Kindertagen, hat das Manuskript gelesen und auch freigegeben. Hierfür ein herzliches Dankeschön.
Mit welcher Leichtigkeit man doch durch diese Zeit gegangen ist. Unbeschwert, ein besseres Wort konnte ich nicht finden.
Wissen im Mai 2020
Jürgen Linke
Mitte September 1958
Es soll am späten Vormittag passiert sein, so wie mir meine Mutter berichtet hat. Außer ihr und mir sollen noch die Hebamme Ida Dietershagen und meine Oma Lenchen anwesend gewesen sein.
Meine Geburt!
„Ich hörte die Glocken von der evangelischen Kirche zu Mittag läuten“, sagte meine Mutter, „als ich dich das erste Mal im Arm hielt.“ Mehr gab es wohl auch nicht zu sagen. Zur Zeit meiner Geburt gab es im Grubenort Eupel, später Hövels, noch keine katholische Kirche. Diese sollte Jahre später, unter kräftiger Mitwirkung meinerseits bei der Grundsteinlegung, gebaut werden.
Auch hätte am Tage meiner Geburt die Sonne geschienen, berichtete meine Mutter mir später. Es war also ein schöner Tag, auch wenn ich jahrelang geglaubt habe, es wäre Freitag, der Dreizehnte, gewesen. Wie die meisten Kinder, so auch ich, erinnert man sich zunächst nur schemenhaft und dann immer deutlicher an seine Umgebung. Es waren die Geschwister und dann die Großeltern, Oma und Opa, von den Eltern einmal ganz abgesehen. Und noch eine Oma, die wir nicht Oma nennen durften, sondern wir sollten sie „Mutter“ nennen.
Mutter war die Mama meines Vaters, der wiederum sehr früh seinen Vater verloren hatte. Mein Großvater Wilhelm ist, für mich heute vollkommen unvorstellbar, in frühen Jahren, er war gerade mal 35 Jahre alt geworden, an Staublunge krepiert. Die vornehme und steinreiche Grubengesellschaft, der mein Großvater als ganz normaler Grubenarbeiter sein Leben geopfert hatte, sah sich außerstande, der jungen Familie, Großvater hinterließ Frau und vier kleine Kinder, eine ordentlich auskömmliche Versorgung angedeihen zu lassen. Die Diagnose „Staublunge“ wurde mit einem Fingerzeig vom Tisch gewischt. Und bestochene, aber durchaus hoch angesehene Ärzte sorgten mit ihren gekauften Gutachten dafür, dass Großmutter und ihre vier Kinder in bitterste Armut fielen, und das für viele Jahre.
Meine Großmutter besaß nicht genügend Geld, um eine Obduktion zu bezahlen und damit den Kapitalisten von der Grubengesellschaft zu beweisen, dass es doch Staublunge gewesen ist, die für den Tod ihres Mannes verantwortlich war. Es war halt ein normales Arbeiterschicksal.
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Schön war er nicht, der Ort, in dem ich mein Leben erblickt hatte, aber dieser Ort war einfach unglaublich! Einfach faszinierend! Es war die Bimmelbahn, die mich früh in ihren Bann zog. Von der Erzgrube aus rollte die kleine Bahn mehrmals täglich durch den gesamten Ort bis zum Bahnhof, um hier von einer Vorrichtung, oder besser gesagt von einem stählernen Gerüst, das verhüttete Erz in Bundesbahnwaggons zu verladen. Je mehr kleine Kippwagen das Grubenbähnchen zog, umso leichter war es für die großen Kinder, aufzuspringen und ein Stück mitzufahren, sehr zum Missfallen des Lokführers, der aus seinem Führerhaus einen guten Überblick über die kleine Bahn hatte.
„Bimmelbähnchen“ wurde die kleine Grubenbahn deshalb genannt, weil sie die relativ kurze Strecke von der Grube bis zum Bahnhof unentwegt mit einer Glocke läutete. Damit machte die Bahn an den Punkten, an denen sie die Straßen querte, auf sich aufmerksam. Wölfjen und ich, und für kurze Zeit auch Dieter, der im Bahnhof wohnte, waren ein eingeschworenes Team, bis Dieter frühzeitig die Truppe durch Umzug verließ. Ab da gab es nur noch Wölfjen und mich.
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Onkel Willi musste an diesem Tag bei uns zuhause zu Besuch gewesen sein, denn nur dann wurde Bier in unserem Haushalt ausgeschenkt. Also wurde ich geschickt, um Bier zu kaufen: zwei Flaschen Germania Bier. Da Wölfjen, wie immer, nicht weit weg war, leistete er mir Gesellschaft und so zogen wir gemeinsam zur nahen Bahnhofswirtschaft, um bei Orthens Paul die von Vater gewünschten zwei Flaschen Gerstensaft zu erwerben (heute wäre ein solcher elterlicher Auftrag an zwei Fünfjährige nicht mehr denkbar). Die beiden Bierflaschen hatten dummerweise Bügelverschlüsse und so passierte, was passieren musste. Wir öffneten die Flaschen und genossen genau an der Stelle, wo das Grubenbähnchen auf das Stahlgerüst fahren konnte, unseren ersten Gerstensaft, der uns, wie konnte es auch anders sein, in einen veritablen ersten Vollrausch unseres noch jungen Lebens versetzte.
Wir wären betrunken gewesen, erzählte man sich, was ja auch stimmte. Ob mein Schädel vom Bier oder der vermeintlichen Bestrafung gebrummt hat, lässt sich nach so vielen vergangenen Jahren nicht mehr sagen. Wir hatten im frühen Kindesalter eklatant gegen das Jugendschutzgesetz verstoßen. Eine harsche Bestrafung folgte umgehend und trübte für Tage mein unbeschwertes Leben am Fuße des Steckensteiner Kopfes. Aber etwas Gutes hatte die Episode: Bier brauchten Wölfjen und ich keines mehr kaufen gehen.
Orthens Paul, ein gütiger grauhaariger alter Mann, der mir durch seine riesige Warze auf einer seiner Wangen aufgefallen war, verkaufte in der Bahnhofswirtschaft alles, was das Herz begehrte. Eigentlich führte er so eine Art Zweigstelle seines an der Hauptstraße ansässigen Geschäftes, welches er mit Frau und Sohn als Familienunternehmen betrieb und das vor Jahren sogar über eine Tankstelle verfügte. Es war ein interessantes Gesicht, was einen über den Tresen hinweg ansah und Fragen stellte, um herauszufinden, was es denn jetzt schon wieder sein durfte.
Heute glaube ich, es war der Warze wegen, warum ich so oft die Dienste von Orthens Paul in Anspruch nahm. Stellte ich mir doch jedes Mal bei unserer Begegnung vor, man könnte ein Seil an der Warze befestigen, oder irgendetwas dort anhängen. Jedenfalls konnte ich meinen Blick schlecht von der Warze abwenden.
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Einige Zeit später, Wölfjen und ich gingen jetzt immerhin gemeinsam in die Schule, sollten Zigaretten und Zigarillos unsere ungeteilte Aufmerksamkeit erregen. Ja, wir gingen jetzt in die erste Klasse und die Marken „Peer Export“ und „Weiße Eule“ sollten angesichts unseres fortgeschrittenen Alters von uns fachmännisch gequalmt werden. Dieses Mal hatte sich uns beiden, Wölfjen und mir, Hans Günther, auch „Meckmeck“ genannt, angeschlossen. Wir hatten für unser Vorhaben den Standort vom Bahnhof in eine alte Scheune auf der Wiese des nahen Bauernhofes verlegt. Es war ein echt alter Schober ohne Gefache, dafür mit viel Heu- und Strohresten, Rinderdung – und wer weiß was sonst noch so alles in unserem jetzigen Domizil zu finden war. Jedenfalls war die alte Scheune, die schön unter alten Obstbäumen gelegen war, perfekt geeignet für unser Unterfangen.
Ich kann bis heute nicht sagen, wo wir das Geld herhatten, um uns diese Rauchwaren zu beschaffen, aber eines ist gewiss: Außer Äpfel und Birnen haben wir nichts gestohlen. Ein weiteres, gutes Versteck zum Paffen war der alte Schuppen, der unterhalb unseres Wohnhauses
Nachwort
Lange Zeit habe ich die Erinnerungen an meine Kindheit verdrängt. Erst als meine Schwester mich aufforderte, doch einmal ein Lied über die Niederhövelser Jahre zu schreiben, wurde mir klar, was wir damals so alles erlebt hatten. Ich habe versucht, in diese Zeit, die nun mehr als 50 Jahre zurückliegt, einzutauchen.
Und das Erzählte habe ich so erlebt, es ist meine Geschichte und die meiner Familie. Und die Geschichte von Dieter, meinem alten Freund aus Kindertagen, den ich Jahrzehnte aus den Augen verloren hatte. Es war eine unbeschwerte Kindheit, vielleicht sogar die unbeschwerteste Zeit meines Lebens.
Wissen, im März 2020
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Vorstellung des Buches auf AK-Kurier hier.
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„Wölfjen und ich: Geschichten aus einer Zeit ohne Überfluß"
Verlag: VERRAI-VERLAG
ISBN: 9783948342241
226 Seiten
Preis: 13,90 Euro
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Die SWR-Landesschau Rheinland-Pfalz hat Jürgen Linkes Buch einen hochwertigen Beitrag gewidmet:
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Nachricht vom 03.01.2021 |
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